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Spiegel ohne Bild (Essay)

Retrospective "Naturgemäß bringt mich meine Arbeit als Fotograf im Laufe der Jahre mit sehr vielen Menschen zusammen. Wie an meinem Portfolio unschwer zu erkennen ist, liegen die Berührungspunkte in den allermeisten Fällen bei denen mit dem weiblichen Geschlecht.
Unzählige Frauen und Mädchen jedes Alters konnte ich bis heute vor und mit meiner Kamera studieren – die äußerlichen Begehrlichkeiten ebenso wie die dahinter verborgene Psyche. Unausgesprochen und ohne Worte begebe ich mich mit jeder neuen Inszenierung, mit jedem neuen, auf den ersten Blick noch so bedeutungslosen Motiv, in eine hochemotionale Zwiesprache über Macht, Schönheit, Sex, Moral, Konventionen und intime Befindlichkeiten – immer geprägt von der Frage nach den Grenzen individueller, körperlicher und geistiger Selbstbestimmung.
Aus und in diesen sehr privaten Begegnungen entsteht ein offenes nonkonformes Ringen mit Wünschen, Fantasien und gesellschaftlich „genormten“ Ansprüchen. Dabei wird die Erfüllung oder Nichterfüllbarkeit „fremder“ Erwartungen zu einem zentralen und sehr persönlichem Bekenntnis/Statement der porträtierten Person, das die Wirkung eines Motivs maßgeblich beeinflusst.
Die Art der Inszenierungen, die Intensität der so entstehenden Bilder und erzählten Geschichten erlauben mir immer wieder aufs Neue einen sehr eindringlichen, ehrlichen und authentischen Blick hinter den Vorhang der allseits glorifizierten und als erstrebenswert geltenden weiblichen Schönheit. Der „Schöne Schein“ wird während meiner Arbeit also ergänzt durch eine zweite Betrachtungsebene, die den der Öffentlichkeit abgewandten Schatten, sehr offen und unverdeckt „beleuchtet“. Als eine der ersten „Aufzeichnungen“ zum Thema Schönheit/Vergänglichkeit habe ich das hier gezeigte Motiv „Spiegel ohne Bild“ mit einigen der oben beschriebenen Gedanken und Erfahrungen interpretiert.
Alle stereotypen Aspekte der weiblichen Schönheit verdichten sich in einer bewusst plakativ inszenierten Situation – perfekte Proportionen, die Brust als primäres weibliches Identifikationsmerkmal für Erotik, Mutterschaft und Freizügigkeit, sowie die unverzichtbaren „Mittel zum Zweck“ in Form von Make-up und Schmuck, bilden den Rahmen.
Die eigentliche Botschaft des Motivs vermittelt aber der Spiegel. Er zeigt der Betrachterin nicht (mehr) das gewünschte/erhoffte Ebenbild der vergötterten Schönheit. Der in den Blütejahren einer jungen Frau selbstverständliche Beweis des eigenen und öffentlichen Selbstwertes, das erstrebenswerte Idealbild, verliert sich im Laufe des Lebens – trotz stetigen Bemühens um möglichst lange Erhaltung – an Kraft. Der „Schöne Schein“ wird zu bedrückenden Last - mit immer häufiger tiefgreifenden Folgen für Körper und Seele der Frau."

Text & Photo from the album "Comments on modern Society" by Chris Neumann 2010

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